Sein Buch Die Wurzeln der Welt wurde in mehrere Sprachen übersetzt, und wenn es darum geht, sich in Pflanzen einzufühlen, ist er einer der ganz Großen. Ein Gespräch mit dem Philosophen Emanuele Coccia.

Emanuele, Professor für Geschichte der Philosophie an der EHESS in Paris, schreibt über die Schönheit, den Geist und die Seele der Botanik und zeigt, dass die Pflanzen die unerkannten Herrscherinnen der Welt sind.

FYTA: Dein Buch ist bemerkenswert, weil es die Pflanzen aus einer philosophischen Perspektive betrachtet und nicht aus einer wissenschaftlichen. Wie bist du auf diese Idee gekommen?

Emanuele Coccia: Als ich ein Teenager war, schickten mich meine Eltern auf eine Schule für Landwirtschaft. Dort habe ich fünf Jahre lang jeden Tag mit Pflanzen gearbeitet. Ich fühlte mich wie im Exil, weil die Landwirtschaft nicht als Teil der Kultur angesehen wurde. Gleichzeitig war es eine äußerst interessante Erfahrung, denn ich musste versuchen, Lebensformen zu verstehen, die nicht so kommunizieren können wie Tiere oder Menschen. Diese Zeit hat mich nachhaltig geprägt. Aber der eigentliche Auslöser für die Idee war ein Besuch des Fushimi-Inari-Schreins in Japan. Er ist wie ein Wald mitten in der Stadt. Für einen in der westlichen Kultur sozialisierten Menschen ist das eine psychedelische Erfahrung. Als ich durch den Schrein schlenderte, sagte ich mir, dass ich etwas über Pflanzen schreiben und diese beiden Seiten meines Lebens irgendwie zusammenführen müsste. Denn obwohl ich immer noch über Pflanzen, Biologie und Botanik las, gab ich Kurse in Religionsphilosophie und Ästhetik. Ich wollte diese beiden Seelen miteinander verschmelzen.

"Wenn wir sagen, dass Pflanzen Lebensformen sind, müssen wir auch zugeben, dass wir Kannibalen sind.

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In deinem Buch sprichst du über den Physiozid, die Tatsache, dass Pflanzen in den Geistes- und Naturwissenschaften kein Thema sind, das es wert ist, erforscht zu werden. Das war nicht immer so. Wie erklärst du dir dieses Phänomen?

Hm. Einige der Gründe reichen weit zurück: Aristoteles zum Beispiel, der Vater des westlichen Denkens, schrieb über alles, nur nicht über Pflanzen. Diese Blindheit besteht seit Jahrtausenden. Andererseits könnte es auch daran liegen, dass wir gar nicht anders können, als jeden Tag Pflanzen zu essen, und dass es uns schwer fällt, ihnen den gleichen Stellenwert wie Katzen oder Hunden zu geben. Andernfalls müssten wir unsere grundlegendsten Vorstellungen infrage stellen.

Wenn wir sagen, dass Pflanzen Lebensformen sind, müssen wir auch zugeben, dass wir auf einer gewissen Ebene Kannibal:innen sind. Aber natürlich: Unser Leben ist immer das Leben, das andere zuerst entwickelt haben, und das wir für uns gestohlen oder verinnerlicht haben.

Andererseits tun wir auch nichts dagegen. Ich habe jetzt eine kleine Tochter, und in den Kinderbüchern, die sie liest, werden Tiere als Figuren dargestellt, während Pflanzen keinen Namen und keine Identität haben, sie sind einfach Natur“ Deshalb ist es so schwer, diese Blindheit zu überwinden.

Eines deiner Hauptargumente ist, dass wir die Pflanzen verstehen müssen, um die Welt zu verstehen. Denn es sind die Pflanzen, wie du in deinem Buch schreibst, die „die Welt machen“. Damit stellst du den Anthropozentrismus völlig auf den Kopf und beschreiben Pflanzen als höhere Wesen, die über weitaus fortgeschrittenere Fähigkeiten verfügen als wir. An anderen Stellen des Buches sagst du jedoch, dass alles als gleichwertig wahrgenommen werden sollte.

Ja, das ist richtig (lacht). Es ist so: Wir sind so daran gewöhnt, den Darwinismus in einer Weise zu verstehen, die die Spiritualität oder das Denken in ein bloßes Spiel von Atomen und Molekülen verwandelt, und die impliziert, dass alles nur in einem wissenschaftlichen Sinne verstanden werden kann. Aber die tiefste Bedeutung des Darwinismus ist eigentlich das Gegenteil. Er legt nahe, dass alles, was beim Menschen zu finden ist, auch in anderen Lebensformen stattfindet: die Metamorphose. Auf dieser Ebene sind meiner Meinung nach alle Lebensformen gleich; sie denken und fühlen gleichermaßen und haben Absichten. Was die Hierarchie betrifft, so gibt es einige, die mehr beitragen. Pflanzen sind Leben. Ihr Beitrag zum Bestehen der Welt ist enorm.

"Wir müssen verstehen, was Pflanzen sind, um zu verstehen, was wir sind".

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Du betrachtest Pflanzen als Vermittlerinnen, die uns das Leben erklären. Was würde sich ändern, wenn wir in der Lage wären, Pflanzen besser zu verstehen?

Nun, alles! Hier sind wir zum Beispiel im Wald. Es ist eine Sache, sich den Wald als einen Ort vorzustellen, an dem alles grün ist, wie die Wände einer Wohnung. Aber es ist eine andere, wenn man bedenkt, dass dieser Ort aus lebenden, empfindungsfähigen Wesen besteht, mit denen wir zwar nicht sprechen, aber eine Beziehung haben.

Auch die Stadt wäre ein ganz anderer Ort, wenn man Pflanzen nicht als Zierde, sondern als Lebewesen betrachten würde, die ihren Platz einnehmen und ein Recht darauf haben, sich wohl zu fühlen.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass wir gar nicht anders können, als Pflanzen zu essen. Das bedeutet, dass unsere Beziehung zu unserer Nahrung und der eigentliche Akt des Essens ganz anders aussehen würde, wenn wir uns bewusst machen würden, dass wir Lebewesen verzehren. Diesen Akt des Essens könnte man im wörtlichen Sinne als Reinkarnation bezeichnen: Wir verzehren den Körper eines anderen Lebewesens. Wenn wir uns dessen bewusst wären, würden wir dem Leben mehr Respekt entgegenbringen.

In deinem Buch gibt es viele sinnliche Passagen. Oft schreibst du über Sex. Sex als kosmisches Ereignis, als ein Moment, in dem sich die Identität auflöst; Blumen und Blüten als fleischlich. Manche Sätze klingen wie Softporno für Sapiosexuelle. Welche Rolle spielt die Sexualität in deiner Pflanzenphilosophie?

Eine große – aber nicht nur als Teil der Philosophie der Pflanzen. Sexualität ist für uns essenziell, aber das Problem ist, dass es ein Missverständnis darüber gibt, was Sexualität ist. Sex bedeutet nicht nur, mit jemandem eine sexuelle Beziehung eingehen zu können. Es bedeutet auch, dass mein Körper aus der Verschmelzung zweier Identitäten, der meines Vaters und der meiner Mutter, entstanden ist, die zu einem Kompromiss führen müssen. Sex steht also auch dafür, dass meine Fortpflanzung niemals die exakte Reproduktion meiner Identität sein kann, sondern sich mit dem Rest der Welt vermischt. Dafür steht Sex: dafür, dass wir ständig mit der Welt verschmelzen müssen.

Bedeutet das auch, dass wir in gewisser Weise ständig Sex mit Pflanzen haben?

Nicht nur mit Pflanzen, sondern auch mit Ideen, Worten … Sexualität bedeutet, dass wir uns ständig verändern. Wenn wir essen, verschmelzen unsere Körper mit anderen Körpern. Um mein Körper zu bleiben, muss mein Körper das Fleisch eines anderen Körpers zu sich nehmen. Das ist auch ein Teil der Sexualität, würde ich sagen. Unsere Körper sind also auf eine implizite Weise aus diesem Pflanzenfleisch aufgebaut. Wir sind eine Metamorphose. Wir müssen verstehen, was Pflanzen sind, um zu verstehen, was die Welt ist und was wir sind.

Hast du eigentlich selbst Pflanzen bei dir zu Hause?

Ich musste gerade umziehen und habe dabei leider meine Pflanzen zurückgelassen. Normalerweise ja, viele davon! Es ist ähnlich wie mit Kindern: Es gibt einem sehr viel Struktur, weil sie einen dazu bringen, jeden Tag bestimmte Dinge für sie zu tun. Vater zu sein bedeutet zu verstehen, dass das eigene Leben vom Leben anderer Lebewesen abhängt. Und das ist etwas, was ich bei der Erforschung von Pflanzen erkannt habe: dass wir nur durch Beziehungen und als Teil eines Netzwerks überleben können.