Wer hat behauptet, dass wir nur miteinander können? Ökosexuelle praktizieren freie Liebe ganz im Einklang mit der Natur. Das ist mehr als nur treehugging, das ist mittlerweile eine sexuelle Ausrichtung. Wie immer spielen auch hier Fragen der Grenzüberschreitung eine Rolle. Naughty by nature? Ein Artikel von Lisa Andergassen

Eine werdende Mutter verbringt ihre Zeit damit, das Haus ihres Freundes zu renovieren. Sie ist am liebsten mit ihm allein, er umgibt sich gerne mit vielen Menschen. Als seine immer zahlreicher werdenden Gäste sich auch immer rüpelhafter benehmen, beginnt die schwangere Frau sie auf Grenzüberschreitungen in ihrem Haus hinzuweisen. So beginnt der Film Mother! (2017). Zuerst sind die Auseinandersetzungen noch freundlich und bestimmt, dann zunehmend hilflos. Und während sie verzweifelt versucht die ausufernden Übergriffe der Eindringlinge einzudämmen, muss sie zusehen wie sich ihr liebevoll eingerichtetes Heim in ein postapokalyptisches Schlachtfeld verwandelt.

Mother! soll laut Regisseur Darren Aronofsky als Sinnbild für die Ausbeutung unserer Mutter Erde verstanden werden. Der Mensch als egoistischer Ausbeuter, der sich die Natur untertan macht, ist auch der Protagonist des Anthropozäns. Und gerade im Angesicht des schnell fortschreitenden Klimawandels werden verschiedene Alternativen zu dieser aggressiven Haltung diskutiert. Eine davon deutet unser Verhältnis zur Erde um: „Nature is your lover, not your Mother“, ist der Schlachtruf der sogenannten ökosexuellen Bewegung.

Denn während eine Mutter bereit ist, Fehltritte ihres Nachwuchses zu erdulden oder gar zu entschuldigen, treffen sich Liebende eher auf Augenhöhe und beide Seiten müssen etwas einbringen, um die Beziehung am Laufen zu halten. So definiert es jedenfalls die Ex-Prostituierte, Performance-Künstlerin und Aufklärungsikone Annie Sprinkle, von der die Ökosexualität-Bewegung 2008 losgetreten wurde, als sie und ihre Partnerin Elizabeth M. Stephens sich in einer Hochzeitszeremonie mit der Erde vereinten. Seitdem haben Sprinkle und Stephens in einer Mischung aus Performance-Art und umwelt- und identitätspolitischen Anliegen so unterschiedlichen Partnern wie dem See Kallavesi, der Kohle, auch dem Dreck an sich die ewige Treue geschworen.

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Dabei geht es ihnen um mehr als nur künstlerischen Ausdruck. Nicht weniger als die Grenzen zwischen den Spezies und Elementen sollen überwunden werden. Fragen nach Geschlecht oder sexueller Ausrichtung sollen ebenso an Relevanz verlieren, wie jene nach Rasse, Klasse oder anderen sozialen Zugehörigkeiten. Mensch, Radieschen, Bachwasser – alles gleich. Um die Erde auf lange Frist zu retten, reicht es zwar auch der Natur mit Respekt zu begegnen, allerdings gilt: Je inniger das Verhältnis, desto stärker die heilende Wirkung für alle Beteiligten.

Ökosexuelle nähern sich dem Objekt ihrer Begierde daher zärtlich an, reiben sich an Pflanzen, streicheln und umarmen sie. Oder sie haben Sex mit ihnen, masturbieren unter Wasserfällen oder haben einen Orgasmus während sie sich im Schlamm suhlen. Allein, zu zweit, mit mehreren. Blüten törnen sie an, sie küssen einander durch umgeschnallte Grasmasken hindurch oder legen sich nackt in Bäche. Der Schritt vom Leben im Einklang mit der Natur hin zur Liebesbeziehung mit ihr ist dabei keine neue Entwicklung. Das zeigt ein Blick in Geschichte.

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Der Anthropologe Thomas Gregor beschreibt in seinem Buch The Sexual Lives of an Amazonian People beispielsweise zwei Überlieferungen, die von sexuellen Beziehungen zu Bäumen berichten. In der einen Geschichte bastelt sich ein Einwohner des Amazonas eine künstliche Vagina aus Blättern, von der er regelmäßig Gebrauch macht. In der anderen findet ein Mann zufällig ein ausgesprochen befriedigendes Loch in einem Baum, dass er schließlich Frau und Geliebter vorzieht. Beide Männer waren, so will es die Überlieferung, derart von den Eigenschaften ihrer botanischen Liebesobjekte angetan, dass sie deren Verlust durch die Zerstörung ihrer besorgten Stammesgenossen betrauerten, als hätten sie einen geliebten Menschen verloren.

Diese besondere Form der Baumliebe kommt so häufig vor, dass sie einen eigenen Namen verdient hat: Dendrophilie. Dass ausgerechnet Bäume Menschen in dieser Weise anziehen ist kein Zufall, erfüllen Eiche, Buche, Erle und Co doch Eigenschaften, die viele von uns in potenziellen Partner:innen für eine Langzeitbeziehung suchen. Bodenständig und stark trotzen sie fast allen äußeren und inneren Einflüssen, spenden uns Trost und Schutz. Sie sind pflegeleicht und beständig. Wenn wir sie brauchen, sind sie da, und zwar bedingungslos. Sie hauen nicht einfach ab. Das ist für alle Geschlechter ansprechend.

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Wie die Natur selbst zu den menschlichen Annäherungsversuchen steht ist weniger klar. Blumen, Sträucher, Bachwasser und Co halten sich bedeckt, wenn es darum geht Bedürfnisse mitzuteilen. Safe Word? Fehlanzeige. Besonders anfällig für Missverständnisse scheint dabei die Topfpflanze. Denn sie ist ganz und gar von der menschlichen Pflege abhängig und befindet sich immer in direkter Nähe zu potenziellen Agressor:innen. Ein besonders bemitleidenswertes Exemplar soll Berichten zufolge unfreiwillig zum Opfer in einem Drama von Harvey Weinstein geworden sein, als dieser 2017 – in einem Restaurant und vor einer seine Avancen ablehnenden Dame – angeblich heftig in jene domestizierte Pflanze hinein onanierte.

Für die meisten Ökosexuellen ist Do No Harm allerdings ein wichtiges Anliegen in ihrer Beziehung zur Natur. Die Künstlerin Genevieve Belleveau zum Beispiel lehnt direkten Sex mit Pflanzen ab. Anstatt Macht über nicht konsens-fähige Flora auszuüben treibt sie es lieber mit ihrem Partner Themba Alleyne in der Natur. Das Paar, das eine Vorliebe für BDSM teilt, bindet Pflanzen auf andere Weise in ihr Liebespiel ein: in Form von Sexspielzeugen in Pflanzenoptik. Penibel naturgetreu nachempfundene Orchideen zieren Buttplugs, täuschend echt aussehendes Gras bildet eine Peitsche. Diese und ähnliche Ökofetische vertreibt das Paar mittlerweile erfolgreich über ihr Unternehmen Sacred Sadism. Ihr Anliegen (neben der Rettung der Erde): BDSM Spiele aus den Schmuddelecken und dunklen Folterkellern hinaus in die luftige Natur bringen. Denn BDSM-Anhänger:innen haben nichts zu verbergen. Bei keiner anderen Sexpraktik spielen Respekt, Vertrauen und gegenseitiges Einverständnis eine größere Rolle, erklärt das Duo.

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Für alle, die sich weder mit künstlichem Gras auspeitschen, noch mit Schlamm auf erotische Tuchfühlung gehen möchten, gibt es auch etwas subtilere Wege das eigene Sexleben umweltfreundlicher gestalten. Die Firma Einhorn stellt beispielweise Kondome aus Naturkautschuk her. Die haben nicht nur tolle Namen wie Sunseeker oder Dickicht, sondern sind auch vegan und kontrolliert fair und nachhaltig produziert. Oder man erweitert das Repertoir je nach Bedarf mit ökofreundlichen Sexspielzeugen, wie sie von Unternehmen wie Other Nature oder Amorelie vertrieben werden. Das ist gut so, denn ein ausgeglichenes Sexleben mildert ja bekanntermaßen auch alle möglichen aggressiven Tendenzen. In diesem Sinne: Ein Bett im Kornfeld, das ist immer frei.

Das Video „Pteridophilia“ des Künstlers Zheng Bo, aus dem die Bilder dieses Beitrags stammen, war auf der Manifesta 12 2018 in Palermo zu sehen. Darin geht es um sieben junge Menschen, die durch den Wald in Taiwan laufen und nach intimen Begegnungen und emotionalen Beziehungen mit Pflanzen suchen.